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BLOGGERNOTE DES BUCHS |
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LESEPROBE |
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Das Team von Leserkanone.de bedankt sich bei Birgit Böllinger vom Büro für Text und Literatur für die Einsendung dieser Leseprobe! Mehr zu Ditha Brickwell gibt es auf ihrer Autorenseite und bei Instagram. Bei Amazon ist das Buch an dieser Stelle erhältlich. Bei diesem Link handelt es sich um Werbung, er enthält einen Affiliate-Code. | | I. KAPITEL Die mühsamen Jahre
»Meine erste Kindheitserinnerung ist rot«, erzählt die Genoveva, »einen roten Nebel habe ich vor Augen. Darin liegt die Mutter aufgebahrt, den Oberkörper von Polstern angehoben, die Augenlider blau-sanft, die Wangen weiß-weichgelb und ihr abgeschnittenes Bein liegt neben dem weißen Leichenhemd sie soll doch vollständig im Grab und bei der Auferstehung sein. So viele Kerzen sind um sie herum, dass die Winterstube rot und rauchig ist von ihrem Glimmerlicht. Die Fanny, meine ältere Schwester, hat mir später den Hergang erzählt: Die Mutter arbeitete und schleppte, Wasser für die Küche, Heu für den Stall und den kleinen Bruder Thomas ins Stübel« Dann legte sie sich stöhnend nieder mit ihrem Kugelbauch. Zwillinge hörte die Hebamme mit ihrer kleinen Holztrompete, die sie gegen den Bauch der Mutter presste. Sie riefen den Doktor. Der sollte die Zwillinge in die Welt holen
Aber der Doktor hat sie nicht herausziehen können, so ineinander verhakt sind sie gewesen
Also hat der Vater den Pfarrer geholt, während die Mutter dagelegen ist in ihren Schmerzen und geschrien hat so schillernd vieltönig und laut wie der Brunftschrei eines Rehbocks und der Pfarrer hat das vorne liegende Kind getauft und der Doktor hat es zerschnitten und herausgewunden sein Seelchen ist gleich in den Himmel geflogen, hat die Hebamme zu uns Kindern gesagt, aber das zweite Kleine auch schnell getauft ist ihnen erstickt und die Mutter hat Fieber bekommen in ihrer Verzweiflung und ein brandiges Bein »Blutvergiftung«, sagte der Doktor, dem sie im Stübel ein Bett hergerichtet hatten, dass er nicht heimginge denn er musste der Mutter ein Bein abschneiden, um das Gift von ihr abzuscheiden sie ist trotzdem gestorben das war 1913, im Frieden.
Die Genoveva in der Josefstadt erzählte ihr Leben, wie sie die Perlen fädelte, ordentlich der Reihe nach, von Anfang an; und Szenen, die ihr wichtig waren, wurden reicher ausgestaltet und erhielten eine Wendung, als ob sie eine Mittelperle setzen wollte; und während ihre Worte den jungen Zuhörer in ferne Zeiten und Zustände führten, dirigierten ihre Augen und Hände die Perlen. Sie war eine großartige Geschichtenerzählerin. Ihre Erinnerungen waren der Stoff, aus denen sie ihre Märchen webte
für mich, Kind, nein schon Jugendlichen
Und ich berichtete ihr zum Ausgleich von meinen Fährnissen im dunklen, selbstsüchtigen Wien der ersten Wirtschafts-Wunder-Wachstums-Jahre. Und es entstand aus meinen und ihren Reden eine Erzählung, in der sich das Leben in Krisen und das Heranwachsen in Eiszeit verknüpften, verspreizten; wobei sie ihren Faden aus der Zeit unterwegs zwischen zwei Weltkriegen zog und ich die Erstarrung unserer Zeit im dunklen Wien im Kopf hatte. Wir redeten und sie fädelte und ich saß bei ihr, an der Seite ihres Arbeitstisches, kaum dreizehn Jahre alt und hörte ihr zu. Sie fädelte die Glasperlen mit langen Nadeln während sie redete, die Augen starr auf ihre Hand gerichtet, die sich wie von selbst bewegte, die wusste, wie sie zielen und schwingen sollte. Ich sehe die Szene vor mir: Die graue Decke ist das Augenmoos, von einer Farbe, die nicht schreckt, von einer Weichheit, die sanft die Perlen schaukelt und nicht rollen lässt; nach ein, zwei Umdrehungen ist die Bewegungsenergie von den verfilzten Fäden aufgesogen, die Perlen liegen still. Die gläsernen Kugeln und Kügelchen haben die Moosfarbe der Decke im Bauch, ihr Äußeres schimmert, in ihrer Mitte steckt je ein weißes Plastikröhrlein, um den Fädelzwirn aufzunehmen wie weiße Stiele liegen sie in ihren Glasgehäusen zueinander, gegeneinander, kreuz und quer
sodass die Perlenhaufen eine Wirrnis aus Glasglanz, Filzgrau und Plastikweiß sind. Das Schicksal aller Perlen ist der gewachste Baumwollfaden, wenn sie die lange Nadel eingefangen und aufgefädelt hat, damit das Perlenvolk in ordentlicher Reihe sich versammele: Vom ersten Haufen werden zehn aufgestichelt, vom zweiten acht, dann sechs von den nächsten drei Haufen und die Nadel gleitet zur oberen Reihe, nimmt vier Perlen und mehrmals zwei und sticht eine große Mittelperle aus dem letzten Glaskugelberg nahe Leos Tischkante und zurück läuft die Hand, zwei und zwei und zwei
der aufmerksame Leo erhält eine Nadel (den Kopf eines langen, gewachsten Zwirns, den Stachel des Schicksals) und darf die kleinen, die Randperlen auffädeln, er stochert im gläsernen Berg, er kürt die Gefährten für die nächste Kette, 18 der 20 Stück
und am Ende, wenn die Nadel ihm aus der Hand genommen und entlang der Glaskugelberge geführt und zurückgekehrt ist, wird die Perlenschnur abgemessen: ein aufgenähter Faden markiert den Auflagepunkt der Mittelperle, je ein Faden die Endpunkte der Kette; was übersteht, wird abgezupft, rollt zurück in den Haufen
Ich, Leo der hier Gelandete und jetzt Beheimatete saß unter der starken Lampe, stichelte und lauschte und redete mit der perlenfädelnden Genoveva.
»In Kronstorf«, sagte sie, »waren wir Fremde. Aus dem Hollerbusch am Bach hörten wir Kinder die Spottrufe der Bauernbuben und die Nachbarn halfen nicht bei der Ernte und grüßten nicht sonntags im Dorf. Das war so, weil der Vater 1912 entschieden hatte da war ich fünf Jahre alt dass er von seinem mährischen Dorf an der Grenze ins wohlhabende Oberösterreich ziehen will. Hinter dem Ku?era her. Der Nachbar Ku?era hat es ihm vorgemacht: Den Hof verkaufen und das Papiergeld, die großen, bunten Kronenscheine, in die mehreren Unterröcke, die so eine mährische Mutter trägt, einnähen lassen, um vor Polizeikontrollen, Behördeneinmischung, Räubern und Unglücken aller Art sicher zu sein.« Der Vater kaufte das Weingartnergut ein breites, auf dem Hügelkamm sitzendes Haus, unter sich die bewaldete Steilstufe zum Teufelsgraben, um sich herum der gute Boden einer sonnigen Hochfläche. Das versprochene üppige Leben aber hat es in Kronstorf nicht gegeben, nur harte Arbeit, Krieg, Hunger und immerzu missgünstige Nachbarn. Bevor das Leben auf dem Weingartnergut unerträglich wurde, kam zu Weihnachten nach der Mutter Tod die Tante zu ihnen, die Schwester der Angelika-Mutter und heiratete den Thomas-Vater. Genoveva war die Zweitgeborene, die alles schneller lernte; zartgliedrig gebaut, weil der Körper der Mutter schon gewusst hatte, dass er nicht zu viel hergeben durfte; die Arme nicht so kräftig, wie die der Schwester Franziska doch der Kopf der Genoveva war voller Gedanken, Gefühle und Bilder. Das macht empfindlich. Sie weinte als Kind oft, erinnert sie sich. »Meine Schwester Fanny, nur weil sie die Älteste von uns war, hatte es leicht. Sie werkte in der Küche, machte Feuer, kochte Milchsuppe, stahl ein Ei. Ja, sie hat sich immer bedient und es uns, den Geschwistern gegenüber, geleugnet, dass sie den Mundraub nicht mit uns teilen, nichts uns zustecken musste vor uns spielte sie die Brave, Zuverlässige und hat mit schlauen Äuglein auf uns heruntergeschaut, das Stanglweib, das aufgeschossene, mit schmalen Schultern und vorgewölbtem Bauch und einem von einer Erbkrankheit angefressenen Gesicht.« Genoveva musste in den Stall gehen in der Frühe; da war sie oft so müde im kalten, feuchten Morgengrauen, dass sie, beim Striegeln gegen den Kuhbauch gelehnt, von der Wärme getröstet, im Stehen einschlief. Gute Kuh. Wartete geduldig, dass die Genoveva die getrockneten Kotschuppen von den Flanken rieb, die Mistfladen zusammenschob und auf den Misthaufen klatschen ließ, das Futterheu in die Raufe hob mit einem Ruck und einem Drehen der Gabel. Gemolken hat die Mutter. Die Genoveva musste längst auf den Schulweg hinaus in den beißend kalten Nebel, durch das Waldstück die Hangkante hinunter und entlang der endlos geraden Fahrrinne durch die Wiesen. |
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