|
|
|
Lesermeinungen (4) Leseprobe Blogger (5) |
|
|
|
LESEPROBE |
|
|
Das Team von Leserkanone.de bedankt sich bei Haike Hausdorf für die Einsendung dieser Leseprobe! Mehr zu Haike Hausdorf gibt es auf ihrer Autorenseite, bei Facebook und bei Instagram. Bei Amazon ist das Buch an dieser Stelle erhältlich. Bei diesem Link handelt es sich um Werbung, er enthält einen Affiliate-Code. | | Die erste Nacht
Zu spät! Wieder einmal zu spät. Tardy schwebte in Höchstgeschwindigkeit durch die nächtlichen Straßen. Seine grauen Jogginghosen und das weite Sweatshirt flatterten im Wind. Als er den gewaltigen Gebäudekomplex des Tower of London vor sich auftauchen sah, verklang der letzte Glockenschlag der umliegenden Kirchen. Die Geisterstunde hatte begonnen und er würde es nicht mehr rechtzeitig in die Kellergewölbe schaffen. Rasant durchquerte er den Burggraben und visierte ungebremst die massive Außenmauer an. Zu seiner Rechten schimmerte das Wasser der Themse im fahlen Mondlicht. Zur Linken blitzte das künstliche Eis der vorübergehend errichteten Schlittschuhbahn. Lautlos passierte Tardy die uralten Steine und näherte sich seinem Ziel. Endlich in den Kellerverliesen unterhalb des Towers angekommen, schnaufte er aus dem letzten Loch. Natürlich war er sich im Klaren darüber, keinen allzu ästhetischen Anblick zu bieten. Verflixt und zugegeistert! Warum nur hatte er verschlafen? Im Gewölbe angekommen, richteten sich zwölf Augenpaare auf Tardy, der eiligst das farblose Sweatshirt glattstrich und sich unbeholfen aufrichtete, um seine pummelige, kleine Gestalt imposanter wirken zu lassen. Die Geister der Weihnacht schwebten an der Stirnseite des Raumes und blickten ihn fragend an. Neun andere, die einen Halbkreis bildeten, musterten Tardy neugierig, belustigt oder kritisch. Ein leises Kichern ertönte, ebenso ein abfälliges Schnauben. Er verzog das bleiche Gesicht zu einem unsicheren Lächeln. „`Tschuldigung, bin etwas spät ...“ „Was du nicht sagst, junger Mann.“ Der Bass des bärtigen Alt-Geistes ließ Tardy zusammenzucken. Er passte hervorragend zur imposanten Statur des Sprechers, wodurch sich der Junge noch kleiner vorkam, als er ohnehin war. Allerdings wirkte der Riese keineswegs beängstigend, sondern eher freundlich. Er trug ein weites, bodenlanges grünes Gewand, unter dem seine bloßen Füße hervorlugten. Tardys Blick wanderte von den Zehen über das rostzerfressene Schwert, das der Geist um die Taille gegürtet hatte, weiter zur nackten Brust, die zwischen grünem Stoff und weißem Pelzbesatz zu sehen war. Zuletzt betrachtete der Neuankömmling das von dunkelbraunen Locken und Bart umrahmte, freundliche Gesicht sowie die ungewöhnliche Kopfbedeckung: einen Stechpalmenkranz, der mit glitzernden Eiszapfen besetzt war. In der Hand trug der Riese eine brennende Fackel in Form eines Füllhorns. Mit amüsierter Stimme fuhr er fort: „Hättest du die Güte, dich einzureihen, damit wir beginnen können?“ Tardy erwachte aus seinen Tagträumen. „Verzeihung.“ Schnell huschte er an den Rand des Halbkreises. Neben ihm ertönte erneut ein Kichern, das einem Schlaks mit wirrem, rötlichem Haar und komplett grüner Kleidung entschlüpfte. Er überragte den gemütlichen Tardy um mindestens drei Fuß, unabhängig davon, wie sehr sich dieser auch in die Höhe reckte. „Cooler Auftritt“, murmelte der Rotschopf und verneigte sich, wobei er in Ermangelung eines Hutes kurz den Kopf vom Hals hob. Rechts neben dem Riesen erblickte Tardy eine stattliche, schwarzgekleidete Gestalt, deren Gewand den Kopf, das Gesicht und den Körper verbarg. Seine Dunkelheit strahlte auf die Umgebung ab und schien sogar das flackernde Licht der Fackel zu verschlucken. Ehrfurchtgebietend hob der Geist eine Hand. In der ihn umgebenden Finsternis wirkte sein bleicher Unterarm noch heller und die Geste ließ die Runde verstummen. Kein Kichern, kein Atmen, nicht einmal das Rascheln der Kleidung war zu hören. Der linke Geist ergriff das Wort. „Willkommen, meine lieben, jungen Freunde! Wir sind erfreut, euch so zahlreich zu erblicken.“ Tardy blinzelte in seine Richtung. Der Sprecher schien Kind und Greis in einem zu sein: eine ungewöhnliche Erscheinung - keine Frage. Er hatte die Größe eines Knirpses, aber die muskulösen Arme und kräftigen Hände eines Mannes. Sein faltenloses, jugendliches Gesicht stand wiederum im absoluten Gegensatz zum langen schlohweißen Haar. Die gleichfarbige, kurze Tunika war mit Sommerblumen verziert und wurde von einem leuchtenden Gürtel gehalten, von dem ein wunderbarer Glanz ausging. In einer Hand trug er einen winterlichen Stechpalmenzweig, in der anderen eine dunkle Mütze. Gleichwohl war die Krone auf seinem Kopf das Ungewöhnlichste an ihm. Von ihr ging ein überirdisch klares und helles Licht aus, das alles in der näheren Umgebung deutlich sichtbar machte. Im Gegensatz zu dem schwarzen Pendant auf der anderen Seite des Riesen, der das Licht regelrecht absorbierte. Nun setzte der jugendlich wirkende Greis wieder zu sprechen an: „Ich bin der Geist vergangener Weihnachten. Seit zweitausend Jahren sorge ich mich um das Wohlergehen der Menschen in dieser Stadt. Doch es ist an der Zeit, diese Aufgabe in jüngere Hände zu legen. Deshalb, meine lieben, jungen Gefährten, seid ihr heute hier.“ Er lächelte sanft, was den leisen, freundlichen Klang seiner Stimme unterstrich. Die Sprache des Geistes war klar und deutlich und trotzdem glichen seine Worte einem Windhauch, der die Seele der Umstehenden streichelte. Ein lautes Poltern und unterdrücktes Fluchen unterbrachen die harmonische Stimmung. Auf der gegenüberliegenden Seite waren zwei Bewerber aneinandergeraten. Streitlustig schwebten sie voreinander und taxierten sich. „Nicht doch, meine Lieben!“ Der Geist vergangener Weihnachten tadelte die beiden verhalten. Dessen ungeachtet brachte erst eine energische Handbewegung des stummen Gastgebers sie zur Vernunft. Alle wandten sich wieder dem Trio an der Stirnseite zu, als der Riese das Wort ergriff: „Auch von mir, dem Geist der diesjährigen Weihnacht, ein herzliches Willkommen.“ Sein Blick glitt zügig über die erwartungsvollen Gesichter. „Wie bereits in unserer Ausschreibung erwähnt, gedenken wir, uns zur Ruhe zu setzen, sobald geeignete Nachfolger gefunden sind. Meine Gefährten“, er deutete auf den weißen und den schwarzen Geist, „verrichten seit zweitausend Jahren ihren Dienst und auch für mich, den Letzten in einer langen Reihe von Brüdern, ist die Zeit gekommen, dem Beistand für die Menschen Lebewohl zu sagen. Nun ist es an euch, die Botschaft weiterzutragen. Deshalb bitten wir um eine kurze Vorstellungsrunde und das Motiv eurer Bewerbung.“ |
|
Seite:
1 2 3 4 |
|